Insgesamt schuf Spilliaert rund 40 Selbstbildnisse, was selbst angesichts seines umfangreichen Œuvres eine bemerkenswerte Zahl ist. Bei einigen handelt es sich um kleine, schnelle, intime Skizzen, bei anderen um aufwendige, großformatige Arbeiten, die er auch ausstellte. Warum er sich so oft porträtierte, ist nicht ganz klar, aber es gibt mehrere Erklärungsmöglichkeiten.
Erst einmal braucht ein Künstler für ein Selbstporträt nicht sein Atelier zu verlassen, eine Landschaft zu beobachten oder ein Modell zu suchen und zu bezahlen. Vor allem für diejenigen, die gern experimentieren, was Spilliaert als Autodidakt tat, ist der eigene Körper bzw. das Gesicht immer verfügbar. Das Einzige, was man neben einem Träger (Papier) und Material (Tusche, Pastell, Bleistift ...) braucht, ist zumeist ein Spiegel. Und im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern, versteckte Spilliaert diesen nicht. Mit der Zeit wurde der Spiegel sogar Teil seiner Porträts. Mal zeigt er die Rückseite der Staffelei, mal die endlose Reflexion in einem weiteren Spiegel im Raum. Auf einigen Porträts sieht man ihn sogar einen Bleistift in der linken Hand halten, obwohl er Rechtshänder war, das heißt, er stellte sich ausdrücklich spiegelverkehrt dar. In seinem Elternhaus in der Kapellestraat 2, in dem er bis zu seinem 35. Lebensjahr wohnte, gab es viele Spiegel, mindestens einen in jedem Stockwerk. Man erkennt sie in seinen bekanntesten Selbstporträts aus der Zeit 1907-1908.
Spilliaerts Äußeres war auffällig: markantes Gesicht, hohe Stirn und hervortretende blaue Augen. In einem Katalog von 1922 wurde er als „all jenen Fischen ähnlich, die ein längliches Profil haben“ beschrieben.1 Dieses Gesicht eignete sich bei richtiger Beleuchtung und Perspektive perfekt für ausdrucksstarke, dramatische Effekte. Zwei fast identische Selbstbildnisse, auf denen der 2. und 3. Tag des Monats (vermutlich November) verzeichnet ist, belegen, wie Spilliaert immer auf der Suche war und immer wieder an diesem Motiv arbeitete.
Dass sich Spilliaert selbst in den Mittelpunkt stellte, ist nicht unbedingt als narzisstischer Zug zu werten, vielmehr passte es in den Zeitgeist und das literarische und philosophische Umfeld, in dem er sich bewegte. Die Existenzphilosophie und Nietzsche, einer seiner Lieblingsphilosophen, stellten persönlichen Lebenswandel, Authentizität (sich selbst treu bleiben) und Selbstkenntnis in den Vordergrund. Auch die symbolistische Literatur, die Spilliaert gern las, mit Autoren wie Verhaeren und Maeterlinck, stellte die individuelle, persönliche Erfahrung in den Mittelpunkt. Kein Wunder also, dass Spilliaert sich zur psychologischen Ergründung oft selbst porträtierte. Manchmal malte er sich auch indirekt, indem er sein Schlafzimmer oder eine Ecke seines Hauses zeigte, so als wolle er sagen: Ich, Léon Spilliaert, war hier. Seine Briefe zeigen selbstanalytische Züge, mit Reflexionen über seinen eigenen Charakter und Geisteszustand.